Heute, lieber Leser, wurde der Waldprediger wach, weil es so still war, stiller noch als sonst in seiner ohnehin geräuscharmen Klause. Halb noch traumverloren, ahnte er auch schon den Grund für diese Stille. Und richtig! Als sein schlafverschwommener Blick sich durch das Fenster in die Welt tastete, grüßte ihn ein strahlendes Winterweiß; genau zum dritten Adventssonntag hatte es in der Nacht geschneit, tüchtig geschneit! Papier- und Mülltonne, Granitpfosten und Zaunlatten - alles trug eine flauschige Schneehaube, hoch wie die Fellmütze eines kaukasischen Kosaken.

Selbst das Schimpfen seiner Amseln, die ihm im Herbst einen tüchtigen Teil seiner Weinbeeren wegschnabuliert hatten und sich nun über das leere Futterhäuschen beschwerten, drang wie durch Wattestöpsel an sein Ohr.
Ach, wie er diese schallgedämpfte Welt schon als Kind geliebt hatte, wenn er in den Weihnachtsferien zu Besuch bei seiner Großmutter auf dem Dorfe war, raus aus dem Dreckloch, das der Ruhrpott in der Mitte des vergangenen Jahrhunderts noch war, wo man nicht einmal die Wäsche raushängen durfte, wenn man sie weiß haben wollte. Schnee, wenn es ihn mal gab, war dort schwarz!

In Gedanken an die schöne, aber leider nun schon so arg ferne Kinderzeit, kuschelte sich der Waldprediger noch einmal tief in sein Federbett und beobachtete mit dem Behagen der Geborgenheit die Meisen, die aufgeregt auf den dick gezuckerten Eibenzweigen umherhüpften.
Auch sie sollten erst ihr wohlverdientes Futter bekommen, bevor sich der Waldprediger an sein eigenes Frühstück machte. Und sogleich fiel ihm der Vers aus Brecht’s Gedicht „Die Vögel im Winter“ ein: „Spatz, komm nach vorn – hier ist dein Korn“.
Aber einen dampfend heißen Pott Morgenkaffee hatte er doch schon in der Hand, als er, nicht ohne Mühe, die Haustür durch den Schnee aufschob, den der Wind halbmeterhoch bis auf die Schwelle geweht hatte. Ach, lieber Leser, eine italienische Sommerbrise an der azurblauen Adria ist ja schon etwas wunderbares, aber wie dieser frostige Schneehauch in die Lungen und in das Gemüt fuhr, das war doch einfach unvergleichlich.

Es tat ja fast ein wenig weh, mit dem Schneeschieber Wunden in die weiße Pracht zu reißen, aber für den Nachmittag hatte sich lieber Besuch angesagt, dem sich der Weg gastfreundlich und empfangsbereit darbieten sollte.
Wie froh war der Waldprediger, daß er im schon kühlen Herbst seinen inneren Schweinhund überwunden und den Gartenpfad doch noch gepflastert hatte; da flog der Schneeschieber doch wie von allein über den Boden und nur eine Viertelstunde dauerte es, bis der Waldprediger mit frostgerötetem Gesicht und eisigen Ohren, aber hochzufrieden, wieder in seine Hütte treten konnte, wo hinter dem großen Quarzglasfenster des Warmluftofens das Holz loderte, das er vor zwei Jahren aus seinem kleinen Wäldchen geholt hatte. Fällen, auf Länge schneiden, auf den Wagen laden, zur Hütte fahren, abladen, stapeln, auf Kaminformat schneiden, zerteilen, zum Trocknen stapeln. Acht- bis zehnmal hatte er jedes Stück in der Hand gehabt; da heizt man sinnig mit Verstand, aber auch ohne Angst vor Stromausfall und zusammenbrechender Gasversorgung.

Nein, lieber Leser, du mußt nicht denken, daß der Waldprediger ein Technikmuffel sei. Er hat für den Ernstfall sogar zwei Solarpaneele auf dem Schuppendach, doch er hat in seinem biblischen Alter schon so mache Pferde vor der Apotheke kotzen sehen und deshalb auch drei Petroleumlampen nebst fünf Litern Brennöl in der Kammer zu stehen. Die waren eh nicht nur für Notfälle gedacht, sondern für besondere, stimmungsvolle Stunden. Auch heute, zum dritten Advent, würde er bei einsetzender Dunkelheit bei ihrem milden Schein für seinen Besuch eine Flasche Schioppettino, des unvergleichlichen Rotweins aus dem Friaul, entkorken.
Aber jetzt belohnte er sich erst einmal für die Mühe der Schneeschieberei mit einem wunderbaren Eierkuchen, mit Eiern von wirklich glücklichen Hühnern, soweit man als Huhn überhaupt glücklich sein kann, und mit einer Füllung aus Apfelscheiben, gedünstet in karamellisiertem  Rohrzucker und zwölfjährigem  Botucal Reserva Exclusiva!. Den gab es natürlich noch einmal kräftig oben drauf zum Flambieren.

Ja, der Tag war schön und er sollte noch schöner werden. Das nahm sich der Waldprediger jedenfalls ganz fest vor.
Gleiches zu tun, empfiehlt er auch seinem Leser!

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